Familie Peng und Nimue
Nimuë – Geboren um zu leben
Ich bin kein besonders spontaner Mensch. Nein, ich überlege mir Dinge immer sehr genau. Wälze sie stunden- und tagelang im Kopf herum, denke darauf herum, wiege Vor- und Nachteile ab. Umso erstaunlicher ist es eigentlich, dass Nimuë jetzt schnurrend zwischen meinen Armen liegt. Meine rechte Hand fühlt sich schon völlig taub an. Sie mag das; ihr Köpfchen gegen meinen Ellbogen drücken, bis mein Unterarm einschläft.
Aber alles von vorne.
Meine Mutter erzählte mir öfters von der Pfotenhilfe Ungarn, die sie immer wieder mit Spenden unterstützt. Nebst dem Bau eines Hundehäuschens hat sie auch Patenschaften übernommen. Als ihr Patenhund dann erfolgreich vermittelt wurde, erzählte sie mir am Telefon wenig später von ihrem neuen Paten, ähm, Kater. Merlin sollte es sein, ein Notfall. Der zierliche Tiger wurde schwer verletzt aufgefunden und ins Tierheim gebracht, wo man nun versuchte ihn zusammen zu flicken und gleichzeitig nach einem neuen Zuhause Ausschau hielt.
Den Telefonhörer und somit meine Mutter noch zwischen Schulter und Ohr eingeklemmt hüpfte ich ins Arbeitszimmer, googelte nach der PHU und stiess direkt auf der Startseite auf den Kater. Ein seltsamer Laut, irgendwo zwischen Wimmern und Entzücken, entwich mir. Eine wunderschöne kleine Katze – so schwer verletzt. Jemand musste ihm helfen, jetzt und sofort! Ihn zu sich nehmen, pflegen und behüten wie den eigenen Augapfel. Dieses hilflose Häufchen Fell durfte nicht im Stich gelassen werden!
Trotzdem klickte ich das Bild rasch weg. Nein, ich hatte mir geschworen, mit der Katzenanschaffung zu warten bis wir eine neue, grössere Wohnung hätten. Alles andere wäre unvernünftig. Jetzt bloss nicht spontan sein.
In meinem unspontanen Gedächtnis hatte sich Merlin ab er bereits festgekrallt. Ich erwischte mich selbst dabei wie ich beinahe täglich wie zufällig auf seine Seite stolperte – huch, schon wieder da, na sooo ein Zufall… - um zu lesen, ob es etwas neues gäbe.
Kurz vor Weihnachten 2012 gab es ein Update. Merlin sei auf dem Weg der Genesung und müsse sich jetzt noch an das Leben mit nur noch einem Auge gewöhnen. Weiterhin sei er auf der dringenden Suche nach einem Zuhause….
"Schaaaaaaaaaaaahaaaaatz?" – mein Freund kennt mich. Leider zu gut. Bereits als er das Bild von einem kleinen Fellknäuel auf meinem Bildschirm sah wusste er, was ich wollte. Mit hochgezogenen Augenbrauen musterte er mich. "Der sucht ein Zuhause." Meiner Meinung nach genügte diese Aussage. Ob er es nicht verstand, ob er mich ärgern wollte oder ob er einfach ein Mann ist – sein "Und?" schien mir völlig unbegreiflich.
"Der sucht ein Z u h au s e !" erwiderte ich nachdrücklich und wendete mich wieder dem Bildschirm zu. Alles geklärt.
Natürlich liess ich meinem ebenso unspontanen Freund trotzdem noch einige Stunden Bedenkzeit, nicht ohne ihn ständig daran zu erinnern, dass Merlin wartet, während er denkt.
Das Ende vom Lied – Freund war einverstanden und ich begeistert.
Problem Nummer eins: In unserer Wohnung konnte ich einer Fellnase unmöglich Auslauf gewähren. Hauptstrasse, Autobahnzubringer, Bahnlinie und nicht zuletzt der dritte Stock eines Mietshauses machten die Sache nicht einfacher. Es galt also abzuklären, ob Merlin denn überhaupt in Wohnungshaltung vermittelt werden würde.
Meine erste Email an Anke Waiz, Ansprechpartnerin für Merlin, fiel dementsprechend knapp aus. Ich wollte mir nicht schon selbst Hoffnungen machen. Wahrscheinlich hatte der süsse Kerl ohnehin schon mindestens tausend Interessenten.
Während ich auf die Antwort wartete, sah ich sie - an jeder Ecke, in jedem Zimmer, überall war eine kleine, getigerte Geisterkatze. Eingerollt auf dem Bett, auf einem imaginären Kratzbaum im Wohnzimmer am rausgucken, auf meinem Schoss vor dem Fernseher. Jegliche Unspontanität war vergessen.
Und bereits am nächsten Abend sass ich wieder vor dem Laptop und schrieb eine ausführliche Email an Anke, wo ich versuche begreiflich zu machen, dass ich Merlin haben wollte. Nein, wollen ist das falsche Wort. Haben musste. Er gehörte bereits zu mir, auch wenn ich ihn noch kein einziges Mal gesehen hatte.
Die darauffolgenden Stunden und Tage waren unerträglich. Alle paar Minuten Emails überprüfen – hat sie mir zurückgeschrieben? Warum noch nicht? Es sind doch schon drei ganze Stunden vergangen! Ich nervte jeden der es hören wollte oder auch nicht mit "meinem" kleinen Merlin, zeigte Freunden seine Bilder und es fühlte sich so an, als wäre es tatsächlich schon "meiner".
Als dann endlich die Antwort kam – ja, man könne sich gut vorstellen, Merlin in Wohnungshaltung zu vermitteln, ich solle doch beiliegendes Formular ausfüllen – führte ich erstmal einen euphorischen Freudentanz auf, worauf mein Freund mich für definitiv durchgeknallt erklärte.
Sorgfältig antwortete ich auf zahlreiche Fragen zur zukünftigen Katzenhaltung, stolperte dann aber über die Frage, ob der Wohnungsverwalter einverstanden sei mit dem pelzigen Untermieter. Leeres schlucken. Mietvertrag hervorkramen – wo war das verdammte Ding? – hektisches durchblättern. Haustierhaltung – nur mit schriftlicher Bewilligung. Mist.
Ein Blick auf das Datum bestätigte meine Befürchtung: Weihnachtszeit. In unserem Treppenhaus hing seit einigen Tagen ein Aushang, dass die Verwaltung über die Feiertage nicht im Büro sei – und grosszügigerweise bis nach Neujahr, bzw. 7. Januar, die dringend benötigten Ferien anhänge. Ich hätte in die Tischplatte beissen können vor Ärger. Wenn man sie einmal braucht, dann sind die natürlich nicht da.
Trotzdem schickte ich das Formular zurück, mit der Bemerkung, ich würde das so bald wie möglich abklären.
Wenig später erhielt ich die Nachricht, dass eine Vorkontrolle durchgeführt werden würde – sie hatten auch bereits jemanden aus der Schweiz gefunden, der auf einen Sprung bei uns vorbei schauen würde. Wir vereinbarten einen Termin, wobei es mir natürlich nicht schnell genug gehen konnte, und nur wenige Tage später stand Magy vor der Türe. Sie würde beim Januar-Transport selber einen Hund adoptieren, entsprechend konnten wir uns sofort gegenseitig mit Vorfreude anstecken, wobei bei mir ja immer noch nicht klar war, ob es auch tatsächlich klappen würde.
Magy sah sich unsere Wohnung an und es folgte ein ausführliches Gespräch. Ich konnte meine Aufregung kaum verbergen. Nicht wegen der Vorkontrolle, sondern vielmehr weil es langsam greifbar wurde – es musste jetzt einfach klappen! Der kleine Merlin sass bestimmt schon auf gepackten Köfferchen und wartete nur darauf, dass der weisse Transporter auch endlich ihn in sein Glück bringen würde… jeder Tag, den er im ungarischen Tierheim verbringen musste, war einer zuviel!
Magy hatte einen positiven Eindruck von uns erhalten und so erhielt ich von Anke kurze Zeit später die freudige Nachricht, dass sie uns Merlin anvertrauen wollen – vorausgesetzt, unsere Vermietung spielt mit.
Die nächsten Tage verbrachte ich grösstenteils damit, die Nachbarn und den Hauswart zu nerven mit der Frage nach Katzenhaltung. Natürlich konnte mir keiner von ihnen die Bestätigung geben, aber als ich erfuhr, dass eine Nachbarin einen kleinen Hund (Marke Ratte) hielt wusste ich, dass nicht mehr viel schief gehen konnte. Ich schrieb der Verwaltung eine Email, wohl wissend, dass sie ungelesen und völlig nutzlos im Posteingang versauern würde.
Trotzdem – am 7. Januar, pünktlich um 8 Uhr morgens, hing ich am Telefon. Die nette Dame der Verwaltung liess daraufhin mit einem einzigen Wort der Erlaubnis meinen grössten Wunsch wahr werden, und ich hätte sie am liebsten durchs Telefon umarmt.
Natürlich musste ich auch Anke sofort Bescheid geben, ich konnte es nicht erwarten, bei Merlin ein (reserviert) hinter dem Namen zu sehen. Das war MEIN Kater, und er würde zu MIR kommen! Jeder sollte es wissen.
Merlin durfte noch im Januar-Transport mitfahren, es verblieben also noch 5 Tage von der definitiven Zusage bis zur Ankunft des kleinen Pelznäschens. Zeit, die ich damit verbrachte, die Wohnung katzengerecht umzuräumen. Giftige Pflanzen mussten sofort weichen, es wurde Platz geschaffen für Kratzbäume und Liegeplätzchen.
Als ich dann mit meinem Freund einkaufen ging, hätte ich am liebsten den Laden leergekauft. Bettchen, Kissen, Näpfe, Kratzbäume, Unmengen an Spielzeug, Klos, Streu, Leckerlis und natürlich Futter. Völlig ahnungslos vor den riesigen Regalen stehend packte ich anschliessend alles ein, was sich irgendwie gut anhörte; vor meinem geistigen Auge sah ich Merlin, klein und dürr, halb verhungert – aufpäppeln war angesagt!
Nun war die Wohnung eingerichtet und es fehlte nur noch der dazugehörige Bewohner. Der Samstag liess auf sich warten, es kam mir vor wie die längste Woche in meinem Leben. Stunden und Tage wurden gezählt, und in meiner Vorfreude rief ich fast jeden Tag meine Mutter an, die übrigens alles verfolgt hatte und ständig auf dem Laufenden gehalten werden musste. Auch sie konnte es kaum glauben, dass sie ihr Patenkaterchen tatsächlich bald in Natura sehen würde.
Samstag, Transporttag – Magy würde meine kleine Maus von Würzburg in die Schweiz fahren und direkt bei mir "abliefern", so war es ausgemacht. Der Transporter sollte um 18 Uhr in Würzburg sein, darauf folgten noch ca. 5 Stunden weiterfahrt in helvetische Gefilde. Somit wusste ich, dass sie sicher nicht vor Mitternacht ankommen würden, trotzdem schrieb ich Magy ständig SMS, weil ich nicht wusste wohin sonst mit meiner Aufregung. Der Transporter hatte durch Österreich eine Stunde Verspätung eingefangen und so würde es noch etwas länger dauern.
Kurz nach Mitternacht kam mein Freund von der Arbeit nach Hause. Er brauchte gar nicht fragen, an meinem Gesicht sah er an, dass Merlin noch nicht da war. Ich nervte ihn anschliessend damit, dass ich von Fenster zu Fenster hüpfte, den besten Blick auf die Strasse suchte wo ich das Auto – natürlich hatte ich keine Ahnung welches Auto – am ehesten kommen sehen würde.
Kurz vor ein Uhr meinte mein Freund, er habe da jemand gesehen, der suchend herumgefahren sei. Das wars. Ohne Jacke und völlig planlos lief ich nach draussen in die beissende Januarkälte und tatsächlich – just in dem Moment fuhr die kostbare Fracht auf unseren Parkplatz. Ich konnte es kaum erwarten bis die Türe aufging und Magy mir eine grosse Transportboxe mit einer winzigen Katze in die Arme drückte.
Viel mehr als ein gequietschtes "Jööööööööööööö" brachte ich nicht hinaus. Behutsam, als könnte Merlin mitsamt Boxe in meinen Händen zerbrechen, trug ich ihn hoch in die Wohnung und setzte ihn im Wohnzimmer ab. Deckel auf – Merlin raus und weg. Ich erhaschte noch eben einen Blick auf zerzaustes Fell und ein dünnes "Katerchen", dann hatte er sein Plätzchen hinter dem Tischbein gefunden.
Ich konnte den Blick fast nicht von diesem hinreissenden Geschöpf losreissen. Klein und verschreckt, argwöhnisch, sass der kleine Merlin hinter dem Tisch. Ich stellte ihm ein Schälchen mit Futter in die Nähe, und er liess sich nicht lange bitten: Schon kurz darauf erfüllte glückliches Schmatzen die Stille.
Obwohl ich am liebsten die nächsten 3 Tage nicht anders zugebracht hätte als Merlin zu beobachten, war um vier Uhr Bett-Zeit. Leider hatte ich keine Möglichkeit, im sein Klo im Badezimmer zu zeigen, und so holte ich es rüber ins Wohnzimmer und hoffte einfach, dass er es finden und benutzen würde.
Am nächsten Tag die grosse Überraschung: Scharrspuren im Klo! Und irgendwie hatte er nachts im Wassernapf geplanscht, dieser war leer, der Boden rundherum überflutet… prüfender Blick unters Sofa, Katze oder Wasserratte?
Den Sonntag verbrachte mein Kater grösstenteils unter dem Sofa; in unbeobachteten Momenten flitzte er ins Schlafzimmer und machte es sich unter dem Bett gemütlich.
Als ich abends – alleine, mein Freund war wieder arbeiten – vor dem TV sass, die grosse Überraschung: Ein kleines Kätzchen schlich sich vorsichtig ums Eck, sah mich mit grossem Auge an – und dann, als hätte er in seinem Leben nie etwas anderes vorgehabt, lief er zielstrebig auf mich zu, sprang aufs Sofa und eine Sekunde später hatte er sich in meine Arme geworfen. Der Katzenmotor lief auf hochtouren und vor Freude stiegen mir Tränen des Glücks in die Augen. Ich hätte nie gedacht, dass die kleine Katze sich so schnell überwinden würde. Ich war überglücklich über meinen spontanen Einfall, Merlin zu holen.
Das Eis war gebrochen.
Wenig später ging ich zu Bett, und Merlin lief mir hinterher. Obwohl ihm anfangs die Decke noch ein wenig suspekt war, kuschelte er sich bald darauf an mich heran und so schliefen wir ein.
Und jetzt schläft Merlin, der sich wenige Zeit später als Nimuë herausstellte, zufrieden vor der Tastatur. Gut genährt, mit glänzendem, weichem Fell und ganz furchtbar menschenbezogen bereichert die kleine Maus jeden Aspekt meines Lebens.
Auch wenn ich dafür einen eingeschlafenen Arm in Kauf nehmen muss.